Stress am Arbeitsplatz gehört zu den größten Herausforderungen für Unternehmen und ihre Mitarbeiter. Um Stresssituationen effektiv zu bewältigen, ist ein fundiertes Verständnis der zugrundeliegenden psychologischen Prozesse unerlässlich. Das Stressmodell nach Lazarus bietet hier einen wertvollen theoretischen Rahmen, der in der Psychologie weithin anerkannt ist. In diesem Artikel erfahren Sie alles Wichtige über das Stressmodell von Lazarus, seine praktische Anwendung im Arbeitskontext und wirksame Strategien zur Stressbewältigung.
Was ist das Stressmodell nach Lazarus?
Das Stressmodell nach Lazarus, auch bekannt als transaktionales Stressmodell, stellt einen Meilenstein in der Stressforschung dar. Im Gegensatz zu früheren Modellen, die Stress entweder als reine Umweltanforderung oder als standardisierte Reaktion des Organismus betrachteten, führte Richard Lazarus einen differenzierteren Ansatz ein.
Das Modell beschreibt Stress als Ergebnis einer dynamischen Transaktion zwischen einer Person und ihrer Umwelt. Der entscheidende Punkt im Stressmodell Lazarus ist, dass nicht die Situation selbst den Stress verursacht, sondern die Bewertung dieser Situation durch das Individuum.
„Stress ist nicht eine Eigenschaft der Person oder der Umwelt, noch ein Stimulus oder eine Reaktion, sondern eine besondere Art der Beziehung zwischen Person und Umwelt.“ – Richard Lazarus
Nach Lazarus durchläuft jeder Mensch bei der Konfrontation mit einem potenziellen Stressor einen komplexen kognitiven Bewertungsprozess. Diese subjektive Einschätzung entscheidet darüber, ob und in welchem Ausmaß eine Stressreaktion erfolgt.
Der Begründer: Richard Lazarus und seine Beiträge zur Stressforschung
Richard Lazarus (1922-2002) war ein amerikanischer Psychologe, dessen Arbeit die moderne Stressforschung maßgeblich geprägt hat. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Hans Selye, der ein reizorientiertes Stressmodell entwickelte, rückte Lazarus die individuelle Wahrnehmung in den Mittelpunkt seiner Theorie.
Lazarus‘ Beiträge zur Psychologie beschränken sich nicht nur auf das Thema Stress. Er forschte intensiv zu Emotionenund deren Zusammenhang mit kognitiven Prozessen. Sein Werk „Emotion and Adaptation“ (Lazarus, 1991) gilt als Standardwerk in der emotionspsychologischen Forschung.
Als einer der einflussreichsten Psychologen des 20. Jahrhunderts veränderte Lazarus die Art, wie wir über Stress denken. Seine Erkenntnisse bilden die Basis für zahlreiche moderne Ansätze zur Stressbewältigung und psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz.
Das transaktionale Stressmodell im Detail
Das transaktionale Stressmodell nach Lazarus betrachtet die Entstehung von Stress als einen wechselseitigen Prozess zwischen Person und Umwelt. Im Zentrum stehen dabei kognitive Bewertungsprozesse, die auf verschiedenen Ebenen ablaufen.
Die Person-Umwelt-Transaktion
Im Stressmodell Lazarus ist die Interaktion zwischen dem Individuum und seiner Umgebung entscheidend. Diese Transaktion ist von folgenden Faktoren geprägt:
Anforderungen der Situation (externe Faktoren)
Persönliche Ressourcen und Einstellungen (interne Faktoren)
Individuelle Bewertung dieser Faktoren
Ein Beispiel aus dem Berufsalltag: Ein enger Abgabetermin kann für eine Person mit ausreichenden Ressourcen und positiven Einstellungen eine motivierende Herausforderung darstellen. Für eine andere Person mit geringeren Ressourcen oder negativen Vorerfahrungen kann dieselbe Situation hingegen massiven Stress auslösen.
Die Beschaffenheit der Situation allein reicht also nicht aus, um vorherzusagen, ob Stress entsteht. Vielmehr ist es die subjektive Bewertung, die den Stressor als relevant und potenziell bedrohlich einstuft und eine entsprechende Stressreaktion zur Folge hat.
Die drei Bewertungsebenen im Stressmodell Lazarus
Richard Lazarus identifizierte in seinem Stressmodell drei wesentliche Bewertungsebenen, die bei der Entstehung von Stress eine Rolle spielen. Diese Bewertungsprozesse laufen teilweise unbewusst und in schneller Abfolge ab.
1. Primäre Bewertung (Primary Appraisal)
Bei der primären Bewertung schätzt die Person die Situation hinsichtlich ihrer Bedeutung für das eigene Wohlbefinden ein. Dabei sind drei Ergebnisse möglich:
Irrelevant: Die Situation hat keine Bedeutung für das Wohlbefinden
Positiv/günstig: Die Situation wird als vorteilhaft bewertet
Stressend: Die Situation wird als potenziell gefährlich eingestuft
Falls die Situation als stressend bewertet wird, kann sie weiter differenziert werden als:
Herausforderung (Challenge): Die Situation birgt Wachstumspotenzial
Bedrohung (Threat): Die Situation könnte zukünftigen Schaden verursachen
Schädigung/Verlust (Harm/Loss): Ein Schaden ist bereits eingetreten
Beispiel: Ein Mitarbeiter erhält die Aufgabe, eine wichtige Präsentation vor dem Vorstand zu halten. In der primären Bewertung könnte er dies als Herausforderung (Chance zur beruflichen Weiterentwicklung), als Bedrohung (Angst vor Versagen) oder als Mischung aus beidem wahrnehmen.
2. Sekundäre Bewertung (Secondary Appraisal)
In der sekundären Bewertung prüft die Person ihre verfügbaren Ressourcen und Bewältigungsmöglichkeiten. Hier werden folgende Aspekte bewertet:
Welche Coping-Optionen stehen zur Verfügung?
Wie wirksam könnten diese Strategien sein?
Kann ich die gewählte Strategie erfolgreich umsetzen?
Die sekundäre Bewertung ist entscheidend für das Ausmaß der Stressreaktion. Wenn eine Person glaubt, ausreichende Ressourcen zu haben, wird selbst eine bedrohliche Situation weniger Stress auslösen.
Beispiel: Der Mitarbeiter bewertet seine Präsentationsfähigkeiten, die zur Verfügung stehende Vorbereitungszeit und seine bisherigen Erfahrungen mit ähnlichen Aufgaben. Wenn er über gute Ressourcen verfügt, wird er die Situation eher als bewältigbar einschätzen.
3. Neubewertung (Reappraisal)
Die Neubewertung ist ein kontinuierlicher Prozess, bei dem frühere Einschätzungen auf Basis neuer Informationen oder Erfahrungen angepasst werden. Dies kann zu einer Veränderung der emotionalen Reaktion führen.
Beispiel: Nach einer erfolgreichen Probepräsentation vor Kollegen könnte der Mitarbeiter die bevorstehende Vorstandspräsentation neu bewerten und sie nun eher als Herausforderung statt als Bedrohung sehen.
Coping-Strategien nach Lazarus
Ein zentrales Element im Stressmodell Lazarus ist das Konzept des Coping – der Umgang mit und die Bewältigung von Stresssituationen. Richard Lazarus unterscheidet dabei verschiedene Coping-Arten, die je nach Situation und persönlichen Präferenzen eingesetzt werden.
Was sind 3 Arten des Copings nach Lazarus?
Lazarus unterscheidet in seiner Theorie drei grundlegende Coping-Strategien:
1. Problemorientiertes Coping
Diese Form des Coping zielt darauf ab, die stressauslösende Situation direkt zu verändern:
Informationssuche zur besseren Einschätzung des Problems
Entwicklung konkreter Handlungen zur Problemlösung
Aktive Veränderung der äußeren Umstände
Beispiel aus dem Arbeitsplatz: Bei Überlastung durch zu viele Aufgaben kann ein Mitarbeiter eine Prioritätenliste erstellen, Delegation nutzen oder ein Gespräch mit dem Vorgesetzten zur Neuverteilung der Aufgaben führen.
2. Emotionsorientiertes Coping
Beim emotionsorientierten Coping steht die Regulation der eigenen Emotionen im Vordergrund:
Emotionale Distanzierung vom Problem
Neubewertung der Situation in einem positiveren Licht
Akzeptanz von unveränderbaren Umständen
Beispiel: Ein Mitarbeiter, der eine Ablehnung seiner Beförderung erhalten hat, könnte diese Situation als Chance sehen, in seinem aktuellen Bereich noch mehr Expertise zu entwickeln, bevor er den nächsten Karriereschritt anstrebt.
3. Bewertungsorientiertes Coping
Bei dieser Form des Coping wird die kognititive Bewertung der Situation verändert:
Umdeutung der Bedeutung einer stressauslösenden Situation
Änderung der persönlichen Ziele und Werte
Entwicklung einer neuen Perspektive auf das Problem
Beispiel: Ein Team, das ein wichtiges Projekt nicht gewonnen hat, könnte die Situation neu bewerten und den Wert des Lernprozesses und der gesammelten Erfahrungen in den Vordergrund stellen.
Was sind die 3 Ebenen der Stressbewältigung?
Neben den Coping-Strategien betrachtet Lazarus die Stressbewältigung auf drei verschiedenen Ebenen:
1. Kognitive Ebene
Auf dieser Ebene geht es um Gedanken und Bewertungen:
Veränderung negativer Gedankenmuster
Entwicklung realistischer Einschätzungen
Förderung positiver Einstellungen
2. Emotionale Ebene
Diese Ebene betrifft den Umgang mit Emotionen:
Bewusstes Wahrnehmen der eigenen Gefühle
Akzeptanz auch negativer Emotionen
Entwicklung emotionaler Regulationsfähigkeiten
3. Verhaltensebene
Auf der Verhaltensebene stehen konkrete Handlungen im Fokus:
Entwicklung neuer Verhaltensweisen
Veränderung von Routinen
Aufbau von Fertigkeiten zur Stressbewältigung
Die effektivste Stressbewältigung findet statt, wenn alle drei Ebenen berücksichtigt werden. So kann ein Mitarbeiter seine Bewertung einer stressigen Präsentation ändern (kognitive Ebene), seine Nervosität akzeptieren (emotionale Ebene) und Präsentationstechniken üben (Verhaltensebene).
Praktische Anwendung im Arbeitskontext
Das Stressmodell Lazarus bietet wertvolle Einsichten für die betriebliche Gesundheitsförderung und das individuelle Stressmanagement am Arbeitsplatz. Die Erkenntnisse der Psychologie zum Coping und zur Bewertung von Stresssituationen lassen sich in vielfältiger Weise anwenden.
Stressprävention im Unternehmen
Basierend auf dem Wissen über das Stressmodell können Unternehmen folgende Maßnahmen ergreifen:
Ressourcenorientierte Arbeitsgestaltung
Ausreichende Kontrolle über die eigene Arbeit ermöglichen
Angemessene Anforderungen stellen
Soziale Unterstützung fördern
Schulungen zur kognitiven Bewertung
Training zur realistischen Einschätzung von Herausforderungen
Förderung von positiven Einstellungen gegenüber Veränderungen
Vermittlung von Wissen über Stressentstehung
Entwicklung organisationaler Coping-Ressourcen
Etablierung von Unterstützungssystemen für Betroffenen
Schaffung von Erholungsräumen und -zeiten
Angebot von Stressbewältigungsprogrammen
Individuelle Stressbewältigung für Mitarbeiter
Auf individueller Ebene können Mitarbeiter folgende Strategien aus dem Stressmodell Lazarus anwenden:
1. Bewusste Bewertungsprozesse
Stressauslösende Gedanken identifizieren
Alternative Interpretationen von Situationen entwickeln
Perspektivwechsel üben
Beispiel: Ein Mitarbeiter, der bei Kritik sofort an sein Versagen denkt, kann lernen, Feedback als Entwicklungschance zu betrachten.
2. Aufbau persönlicher Ressourcen
Fachliche Kompetenzen erweitern
Soziale Netzwerke am Arbeitsplatz stärken
Selbstwirksamkeitserwartung erhöhen
Beispiel: Eine Führungskraft kann gezielt Fortbildungen zu schwierigen Gesprächssituationen besuchen, um ihre Ressourcen in diesem Bereich zu stärken.
3. Flexible Coping-Strategien
Situationsangemessenes Coping entwickeln
Verschiedene Bewältigungsstrategien erproben
Reflexion über die Wirksamkeit der gewählten Strategien
Beispiel: Bei Konflikten im Team könnte eine Mitarbeiterin zunächst emotionsorientiertes Coping (Beruhigung) anwenden, um dann mit klarem Kopf problemorientiertes Coping (Gespräch suchen) einzusetzen.
Fallbeispiel: Anwendung des Stressmodells bei Veränderungsprozessen
Veränderungsprozesse in Unternehmen sind häufige Stressoren für Mitarbeiter. Das Stressmodell Lazarus kann helfen, diese Situationen besser zu bewältigen:
Primäre Bewertung: Ein Mitarbeiter erfährt von einer bevorstehenden Umstrukturierung. Seine erste Bewertung könnte eine Bedrohung sein: „Ich verliere vielleicht meinen Job.“
Sekundäre Bewertung: Er prüft seine Ressourcen: „Welche Fähigkeiten habe ich? Wie gut ist mein Netzwerk? Welche Bewältigungsstrategien habe ich in ähnlichen Situationen eingesetzt?“
Coping: Je nach Bewertung und verfügbaren Ressourcen könnte er:
Problemorientiert vorgehen: Informationen sammeln, Gespräch mit Vorgesetzten suchen
Emotionsorientiert reagieren: Mit Kollegen über Befürchtungen sprechen, Entspannungstechniken anwenden
Bewertungsorientiert handeln: Die Veränderung als Chance für berufliche Weiterentwicklung betrachten
Neubewertung: Nach einem klärenden Gespräch mit der Führungskraft erhält er die Information, dass seine Position sicher ist und er sogar neue Verantwortungsbereiche übernehmen kann. Dies führt zu einer Neubewertung der Situation als Herausforderung statt Bedrohung.
Fazit: Die Bedeutung des Lazarus Stressmodells für das moderne Arbeitsumfeld
Das Stressmodell nach Lazarus bietet einen wertvollen theoretischen Rahmen für das Verständnis und die Bewältigung von Stress in der modernen Arbeitswelt. Die Erkenntnis, dass nicht die Situation selbst, sondern deren subjektive Bewertung sowie die verfügbaren Ressourcen entscheidend für das Stresserleben sind, eröffnet zahlreiche Ansatzpunkte für die betriebliche Gesundheitsförderung.
In einer Zeit, in der psychische Belastungen am Arbeitsplatz zunehmen und stressbedingte Erkrankungen zu den häufigsten Ursachen für Arbeitsunfähigkeit zählen, gewinnt das Wissen um wirkungsvolle Coping-Strategien zunehmend an Bedeutung. Das Stressmodell Lazarus verdeutlicht, dass sowohl Unternehmen als auch Mitarbeiter aktiv zur Stressprävention beitragen können.
Die Psychologie hat mit den Arbeiten von Richard Lazarus ein Fundament geschaffen, auf dem moderne Konzepte der Stressbewältigung aufbauen können. Von besonderer Relevanz ist dabei die Erkenntnis, dass Coping-Strategien individuell angepasst werden müssen und kein „One-Size-Fits-All“-Ansatz existiert.
Für HR-Verantwortliche und Führungskräfte bedeutet dies, sowohl organisationale Rahmenbedingungen zu schaffen, die Stress reduzieren, als auch individuelle Unterschiede in der Stresswahrnehmung und -bewältigung zu berücksichtigen. Das transaktionale Stressmodell nach Lazarus bleibt auch Jahrzehnte nach seiner Entwicklung ein wertvoller Leitfaden für den Umgang mit den Herausforderungen der modernen Arbeitswelt.
Lassen Sie uns miteinander gehen. Beim THE OFFICE WALK.